Replay : la sphčre punk



 

"Zur Wiederentdeckung der britischen KÖnstlerin und Musikerin Linder"
Springerin, Vienne, 3 July 2006, p.16

The Working Class Goes to Paradise" nannte sich eine Performance, die im April 2006 in der Tate Britain (wieder)aufgeführt wurde. Die Arbeiterklasse im Paradies: Diesen messianischen Wunsch hatte die englische Künstlerin Linder (geborene Linder Sterling) erstmals 2000 in ein Performance-Konzept übersetzt. Darin finden sich die Geschichte der amerikanischen Shaker-Bewegung, gegründet von der aus Manchester stammenden Ann Lee und eines der zentralen Themen von Dan Grahams "Rock My Religion", für die Gegenwart aufbereitet - unter Einsatz von vier simultan spielenden Rockgruppen, einer Reihe von eminenten historischen Frauenfiguren und Linder selbst als der Heiligen Wilgefortis, Schutzpatronin aller unglücklichen Ehefrauen und Magersüchtigen.
Im Zusammenhang von sozialen Bewegungen, Feminismus und Rockmusik klingt eine Art Grundkonstellation an, die Linders Arbeit seit dreißig Jahren auszeichnet. Ein Werk, das mit dem Ende der von ihr gegründeten Post-Punk-Band Ludus (aktiv von 1978 bis 1983) aus dem öffentlichen Bewusstsein verschwand und in den letzten fünf Jahren eine langsame Wiederentdeckung bzw. Aktualisierung erfährt. Eine aktuelle Retrospektive im Magasin in Grenoble, ein eben erschienenes umfassendes Katalogbuch sowie der neu aufgelegte Back-Katalog von Ludus lassen "Linderland", wie die Künstlerin ihr multidisziplinäres Arbeitsfeld gerne umreißt, aus der medialen Versenkung wiedererstehen.
Begonnen hatte alles mit Grafikdesign und Fotocollagen im Manchester der mittleren siebziger Jabre. Mit Skalpell und Zeitschriftenfotos als ihren Malerwerkzeugen" übersetzte sie nicht nur das aufkommende Punk-Sentiment in paradigmatische Schnittmontagen, sondern machte auch ein betont weibliches Moment innerhalb der weit gehend machistischen Punkbewegung geltend. Ein nackter Frauenkörper mit einem Bügeleisen anstelle des Kopfes und geschminkten Lippen auf den Brüsten gab das oftmals reproduzierte Covermotiv der Buzzcocks-Single "Orgasm Addict" ab. Das zusammen mit Jon Savage produzierte Fanzine "The Secret Public" (1978) enthielt weitere ihrer akklamierten Pornografie-trifft-Haushaltseinrichtung-Collagen. Eine gefesselte Frau mit einem Teekessel als Kopf allegorisierte schließlich ein weiteres bahnbrechendes Punk-Motto: "Another Music in a Different Kitchen".
Einer anderen Form von Musik, weniger männlichkeitsversessen und grobianisch, war das Werk ihrer Gruppe Ludus verschrieben. Zum einen von angularen, sich immer wieder selbst unterlaufenden Rhythmus-Strukturen geprägt, zum anderen von zunehmend an den afrikanischen Highlife-Stil angelehnten Gitarrenläufen - solcherart reihte sich die LudusMusik in das Post-Punk-Universum ein, um sich dennoch einen Deut von der dort angesagten Kälte und generellen Weltdistanziertheit zu unterscheiden. Dazu trugen nicht nur Linders teils an Yoko Ono erinnernde Schreikaskaden bei, abrupt verschnitten mit afrikanischer Feelgood-Melodik und glasklarem Jazz-Versatz. Auch ihre Texte, vom programmatischen "Anatomy is not Destiny" bis hin zum sex-ironischen "My Cherry is in Sherry", kreierten einen pop-feministiscben Resonanzraum, der sonst zu der Zeit allenfals bei The Slits oder den Raincoats zu finden war.
Ein Ludus-Auftritt im November 1982 in der Haçienda brachte das konfrontative Moment - und das Unbehagen des überwiegend männlichen Publikums auf den Punkt: Linder hatte sich ein Kleid aus Hühnerfleisch gebastelt, und als sie dieses am Ende fallen ließ, kam darunter nicht die erwartete Nacktheit, sondern ein schwarzer Dildo zum Vorschein. Wen diese Art von sexueller Politik faszinierte (obgleich er sie selbst auf gänzlich andere Weise ausagieren sollte), war Morrissey, Sänger der gerade gegründeten The Smiths und enger Freund Linders. Morrissey erklärt im erwähnten Katalogbuch die Ludus-Musik mit der "failure to find personal gratification, for which the singing of those songs momentarily restored the balance". Er sollte es auch sein, der Linder in den neunziger Jahren als seiner Hoffotografin ein stilles Fortkommen abseits der Kunst bzw. des stagnierenden Independentbereichs ermöglichte. Erst ab Ende der neunziger Jahre kehrte Linder langsam zurück, in Ausstellungen wie "What Did You Do in the Punk War, Mummy?" oder "Punk Graphic Design in Britain", wo ihr historischer Ehrenplatz innerhalb der Bewegung bekräftigt wurde.
Heute arbeitet Linder - neben dem Einzug der Arbeiterklasse ins Paradies - wieder an Fotomontagen. Die Rohstoffe bezieht sie mittlerweile aus Ballettkalendern und Rosenkatalogen, nicht mehr aus Pornomagazinen und Küchenprospekten. Aber die Montage von nacktem Frauenkörper und Haushaltsgerät beschäftigt sie immer noch - als eine "ermächtigende Kollision von Gegensätzen, in all ihrer wechselseitigen Resonanz und Absurdität". Wovon die Arbeiterklasse wiederum nur träumen kann.

Christian Holler

Das Buch "Linder - works 1976-2006" ist im Juni 2006 im Verlag JRP-Ringier erschienen (http://www.jrp-ringier.com).
Die CDs "The Damage", "The Visit/The Seduction" und "Pickpocket/Danger Came Smiling" sind 2002 beim Label LTM erschienen (http://www.ltmpub.freeserve.co.uk/ltmhome.html)
Die Ausstellung "Replay - sphère punk" ist von 4. Juni bis 3. September 2006 in Le Magasin - Centre National d'Art Contemporain in Grenoble zu sehen (http://www.magasin-cnac.org)